erschienen in der NZZ

28. Juli 2000

Wenn der Bach zum reissenden Strom wird

Das Küsnachter Tobel - Ausstellung und Wanderung

Eine Sonderausstellung im Ortsmuseum Küsnacht zeigt die Geschichte des Küsnachter Tobels. Der Dorfbach mit seinen zahlreichen Überschwemmungen spielte im Leben der Küsnachter eine grosse Rolle. Die Naturszenerie im 7,5 km langen Tobel ist ein regionales Ausflugsziel.


Für das Küsnachter Tobel haben zumindest die Bewohnerinnen und Bewohner der Region bloss ein müdes Lächeln übrig. Fragt man nach, heisst es unisono: «Während der Schulzeit mussten wir dort mindestens zweimal eine Exkursion machen!» Nun will aber eine Ausstellung im Küsnachter Ortsmuseum Frühgeschädigten sowie noch Unvoreingenommenen Augen und Ohren für dieoft verborgenen Schönheiten des Tobels öffnen. Christoph Schweiss, Leiter des Ortsmuseums, erläutert, die Ausstellung sei als Anregung gedacht - das eigentliche Sehenswerte sei das Tobel selbst.

Wasserwalzen

Hauptprotagonist des idyllischen Naturschauspiels im Küsnachter Tobel ist der Dorfbach. Das scheinheilig durch das genormte Bachbett plätschernde Wässerchen entpuppt sich zu gewissen Zeiten als wahrer Wolf im Schafspelz: Ein Goldbacher Dokument von 1678 erwähnt erstmals eine grössere Überschwemmung. Seither ist das Dorf im Abstand von jeweils genau hundert Jahren vom Unwetter heimgesucht worden: Als sich 1778, nach massiven Regenfällen, eines Nachts im oberen Teil des Tobels ein Rückstau bildete, quoll Stunden später der Bach lawinenartig mit geballter Kraft aus dem Tobel hervor und überraschte die Dorfbewohner im Schlaf; 66 Tote und grosser Sachschaden waren zu beklagen. Nach dieser Katastrophe wurde der natürliche, sich durchs Dorf schlängelnde Bachverlauf in einen schnurgeraden Kanal gezwungen. 1878 geschah beim Bau der Seestrasse erneut ein Unglück: Nach schweren Regenfällen staute sich das Wasser an der viel zu tief gelegenen Brücke und bildete eine bremsende Wasserwalze. Schlamm und Geröll füllten sofort den ganzen Kanal, der Bach trat auf der Höhe des Gemeindehauses über die Ufer und überschwemmte den ganzen unteren Dorfteil. Die Hochwasserlinie am Haus an der Unteren Dorfstrasse 2 erinnert noch heute an diese Überschwemmung.

Ein Modell im Ortsmuseum zeigt, wie man nach dieser Katastrophe im Rahmen eines Pilotprojekts (es war die erste Flusskorrektur, die mit Bundesgeldern finanziert wurde) das Bachbett total saniert hat. Vier Jahre lang wurde geplant, projektiert, gesprengt und vor allem betoniert: seither sind 70 Prozent des Bachbettes künstlich. Ein weiteres Modell im Ortsmuseum zeigt eine Simulation des Bachverlaufs im Querschnitt: Um die Dynamik des Baches zu zähmen, wurden 101 Schwellen gebaut, heute sind es noch deren 70. In Trockenperioden fliessen zwar nur etwa 3 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ins Dorf hinunter; bei Hochwasser kann die Wassermenge aber auf 26 Kubikmeter pro Sekunde ansteigen.

Das Ortsmuseum hat im Zusammenhang mit der Ausstellung über das Tobel eine Wanderkarte mit fünf Routen herausgegeben. (Beziehen kann man diese im Museum oder in der Buchhandlung Wolf in Küsnacht.) Auf der Rückseite sind die Routen kurz beschrieben, Illustrationen von Graureihern, Wasseramseln, Bergstelzen und Feuersalamandern machen auf die Fauna des Tobels aufmerksam.

Der erste Weg beispielsweise beginnt beim Schiffssteg, führt an Küsnachts geschichtsträchtigen Bauten vorbei (C.-G.-Jung-Institut; Zehntenhaab, ehemalige Johanniterkomturei) zum Ortsmuseum. Das Museum, zusammen mit der Musikschule in der ehemaligen oberen Mühle eingerichtet, steht direkt am Eingang des Tobels. Eigentlich sind sowohl Karte als auch die gelben Wandertafeln obsolet, um auf die richtige Fährte zu gelangen: Man braucht bloss dem Rauschen des Baches zu folgen.

Beim Spazieren wird man gelegentlich von keuchenden Joggern überholt oder muss einem Mountainbike aus dem Weg hüpfen. Auf den gut erhaltenen, breiten Kieswegen wähnt man sich indes eher in einem Park denn auf einem Waldweg. Mit - vom kurzen Anstieg - leicht erhöhtem Puls wird man jäh durch einen enormen Gesteinsbrocken gestoppt: Massige 260 Tonnen, versehen mit einem zierlichen Täfelchen, zwingen zum Innehalten: «Wöschhüüslistein» wurde das Unding genannt - bis es zu Ehren des Geologen Alexander Wettstein (1861-1887) den sinnigen Namen «Alexanderstein» erhielt.

Von Burgen und Drachen

Beim «Wulp-Grat» zweigt ein schmaler Steig, versehen mit einem wackeligen Holzgeländer, zur Burgruine ab. Die kleine Extra-Anstrengung lohnt sich - vorausgesetzt, man hat die «Wulp» nicht schon in seiner Kindheit ausgiebig inspiziert. Mauerreste aus dem 10./11. Jahrhundert zeugen vom mittelalterlichen Leben. Im Ortsmuseum erfährt man mehr über diese Burg, die bereits 1250 von ihren Bewohnern verlassen wurde. Kinder können sich als Burgfräuleins und Ritter verkleiden, mit Nachbildungen von Fundgegenständen spielen und so mit der Geschichte auf unkomplizierte Art in Berührung kommen.

Im Tobel gibt es übrigens auch eine Drachenhöhle. Ein Kinderbuch, herausgegeben von Christoph Schweiss, schildert, was der Lindwurm «Tunichtgut» dort so alles treibt. So erfahren Kinder die Geschichte des Tobels anhand von kurzen Märchen - wie es wirklich gewesen ist, steht etwas kleiner gedruckt am Blattrand. Kleine Feldforscher und Pfadfinder aufgemerkt, der Drache ist zwar ein friedliches Ungeheuer, benimmt sich aber äusserst ungeschickt: Er will schuld daran sein, dass die «Wulp» einst den Hang hinuntergestürzt ist, ebenso wie die Überschwemmungen auf seine Kappe gehen.

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